Der Tomülpass erwacht zu neuem Leben

Eine neu aufgebaute Trockenmauer zwischen zwei bestehenden.
Zur Restaurierung des «Polenwegs» von 1941. Von Fachhistoriker Cornel Doswald, Bremgarten AG

Ein Weg ohne Geschichte?

Der Tomülpass bildet die einzige direkte Verbindung zwischen Vals und dem Safiental, und man möchte annehmen, dass zwischen den beiden Walsergemeinden enge Beziehungen bestanden hätten. Der Pass mit einer Meereshöhe von 2411 Metern bietet keine besonderen Geländeschwierigkeiten, und die Distanz von 13,2 Kilometern mit Höhendifferenzen zu den Talböden von 1195 Metern auf Valser und 750 Metern auf Safier Seite lässt sich in einem Tag bewältigen. Aber noch in seiner ethnografischen Darstellung des Valsertals von 1913 erwähnt J. J. Jörger den Tomülpass nur beiläufig: «Von Vals-Platz führt ein Pass über Alp Tomül nach Safien und ein anderer, der Patnaulpass [...] nach Vrin. Sie haben nur touristische Bedeutung und keine Geschichte.»

Tatsächlich orientierten sich die beiden Talgemeinden jahrhundertelang nach Süden, auf ihre hauptsächlichen Viehexportmärkte in Chiavenna und Locarno hin. Safierberg und Valserberg verbanden sie mit dem ebenfalls von Walsern besiedelten Rheinwald, von dem Splügen- und San Bernardinopass ausgehen. Erst nach dem Bau der fahrbaren Talstrassen (Ilanz–Uors–Vals 1872–1879, Safier Talstrasse 1883–1885) orientierten sich die Täler zum Vorderrhein um. Untereinander jedoch unterhielten die katholisch gebliebenen Valser und die reformierten Safier kaum Beziehungen.

Auf der Valser Seite wurde zweifellos mit der Erschliessung der Alp Tomül bereits im Mittelalter ein Fussweg angelegt, der offenbar bis auf die Passhöhe führte, wo früher die Gemeindegrenze verlief. Die Alp gelangte 1612 in den Besitz der Gemeinde Flims, der heutigen Eigentümerin. 1914 wurden die Alpgebäude erneuert; seither umschliessen die Sennhütte und die gegenüberliegenden Ställe einen eingefriedeten Hof. Gleichzeitig wurde der Alpweg bis zum Alpstafel zum Saumweg ausgebaut; aus dieser Zeit stammt wohl auch die kleine Steinbogenbrücke unterhalb der Alpgebäude.

Auf der Seite der Safier Alp Falätscha scheint dagegen bis zum 2. Weltkrieg kein regulärer Weg bestanden zu haben. Weder Dufourkarte (Erstausgabe 1859) noch Siegfriedkarte (Erstausgabe 1917) verzeichnen eine Wegverbindung; erst die Erstausgabe der Landeskarte 1:25'000 von 1964 zeigt die durchgehende Saumwegverbindung zwischen Vals Platz und Safien Turrahus.

Gedenktafel auf der Passhöhe tomülpass

Polnische Soldaten schliessen die Lücke

In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 1940 überschritten die Angehörigen der in Frankreich gegen die deutschen Invasoren kämpfenden 2. polnischen Schützendivision und Teile der 1. polnischen Grenadierdivision, insgesamt 12'152 Mann, im Clos du Doubs die Schweizer Grenze, um sich auf neutralem Territorium vor der drohenden Kriegsgefangenschaft in Sicherheit zu bringen. Sie wurden zunächst in einem schlecht geleiteten Internierungslager konzentriert, leisteten in den Folgejahren aber an zahllosen Einsatzorten in der ganzen Schweiz wertvolle Arbeit, nicht nur im Strassen- und Wegebau, wovon zahlreiche «Polenwege» zeugen, sondern auch bei Meliorationsmassnahmen und in der Landwirtschaft. Zahlreiche von ihnen konnten ausserdem ihre Ausbildung oder ihr Studium in der Schweiz fortsetzen, standen aber während der Sommerferien ebenfalls im Arbeitseinsatz.

Am Tomülpass bauten im Sommer 1941 Studenten des Hochschullagers Fribourg einen fahrbaren Saumweg vom Turrahus über die Alp Falätscha zur Passhöhe. Sie realisierten damit ein Projekt für eine Alperschliessungsstrasse, das die Gemeinde Safien bereits in den Vorkriegsjahren geplant, aber aus Geldmangel nicht ausgeführt hatte. Untergebracht waren sie in Baracken in Turrahus, von wo sie täglich bis zu zwei Stunden zu Fuss zur Baustelle hochsteigen mussten. Auch auf der Valser Seite erneuerten sie den Alpweg, sicher mit Wegkorrekturen im Riefawald und vom Riedboden auf die Alp Tomül, wo diese zweite Spur heute noch gut sichtbar ist. Ein Denkmal auf der Passhöhe erinnert an ihre Arbeit. Ein weiterer Gedenkstein befindet sich am Wanderweg oberhalb Vals.

Dieser Strassenbau lag auch im Interesse der Armee, da sich die Gebirgstruppen innerhalb ihres weiträumigen Dispositivs schnell verschieben und ihre Versorgung sicherstellen mussten. Namentlich die nicht mit Strassen versehenen Querverbindungen zwischen den Haupttälern wurden vielerorts ausgebaut. So wurden im Safiental auch der Glasspass und die Strecke vom Turrahus auf den Safierberg ausgebaut. Zwischen Safien und dem Lugnez wurde das Günerlückli ausgebessert, und in Vals entstand eine neue Strasse in das Peilertal.

Bachüberquerung auf Valser Seite vor der Instandstellung.

Verfall und Wiederherstellung

Die besondere Bedeutung des Polenwegs als historischer Verkehrsweg ergibt sich zunächst einmal aus seiner hervorragenden Trassierung, mit der die Bauleute sehr intelligent auf die stark wechselnden topografischen Verhältnisse reagierten. Deshalb hat jeder Wegabschnitt eine eigene Ausprägung. Der Ausbau mit Stützmauern, Kehren, Strassendämmen, Pflästerungen, Durchlässen und Querabschlägen wurde an die örtlichen Verhältnisse angepasst, er war gleichzeitig funktionell, ökonomisch und robust. Damit konnte man ein Normalprofil von rund 2 m Breite über die ganze Wegstrecke durchführen, und dies bei verhältnismässig konstantem Gefälle, weshalb der Weg sehr bequem zu begehen und das Kreuzen überall möglich ist.

Der Polenweg ist damit nicht nur ein exemplarisches Beispiel für die Wegbauten der polnischen Internierten, sondern zugleich ein hervorragendes Beispiel für den Wegbau der Armee innerhalb des Alpenreduits. Durch die Gedenkinschriften wirkt er auch als Denkmal des Selbstbewusstseins der polnischen Soldaten in der Schweiz.

Aktuell hat der Polenweg vor allem eine touristische Bedeutung als Teilstück verschiedener Mehretappenrouten von SchweizMobil (nationale Route: 1 Alpine Bike / SchweizMobil regionale Routen: 35 Walserweg Graubünden, 90 Graubünden Bike). Ausserdem dient er untergeordnet als Fahrweg zwischen der Alp Falätscha und der Passhöhe auch der Alpwirtschaft.

Der Weg zeigte aber vor Beginn des Restaurierungsprojekts an vielen Stellen die Spuren eines jahrzehntelang vernachlässigten Unterhalts und der dadurch begünstigten Erosion, wie das auch bei zahlreichen anderen alpinen Saumwegen festzustellen ist. Es ist vor allem die Entwässerung der Wegoberfläche, die der Erneuerung bedarf, um die Erosion zu stoppen: Die meisten der Querabschläge und Durchlässe aus Steinplatten sind verstopft, eingedrückt oder zerfallen. Die Pflästerungen, die an besonders steilen Stellen eingebaut wurden, sind weggedrückt und lösen sich auf. Einzelne trocken gemauerte Stützmauern sind ausgebaucht oder weisen Schäden an der Mauerkrone auf. Stellenweise, vor allem in Bereichen mit aufgeweichtem Untergrund, sind Wegoberfläche, Stützmauern und Wegschultern auch durch kreuzendes Vieh in Mitleidenschaft gezogen worden. Ausserdem sind in einzelnen Abschnitten mehr oder weniger stark ausgeprägte Fahrspuren von Motorfahrzeugen vorhanden.

Bachüberquerung auf Valser Seite nach der Instandstellung.

Denkmalpflege im alpinen Gelände

Vom Sommer 2018 bis im Herbst 2022 wird der historische Weg zwischen der Alp Falätscha und der Alp Tomül nun saniert. Die Saison für die Bauarbeiten ist kurz und dauert nur drei bis vier Monate. Der bei Wanderern und Bikern sehr beliebte Weg wird so erhalten und erfährt eine bedeutende Aufwertung.

Das Restaurierungsprojekt verbindet drei wesentliche Ziele: Die historische Bausubstanz soll gesichert und soweit nötig handwerklich getreu wiederhergestellt werden. Dafür sind die aufgetretenen Schäden an der Entwässerung, den Stützmauern und den Pflasterflächen zu beheben und namentlich die Erosion als hauptsächliche Ursache einzuschränken. Dies bezweckt eine Gewährleistung der statischen und konstruktiven Funktion dieser Wegbestandteile. Damit soll schliesslich der laufende Unterhalt, der von den beteiligten Gemeinden Vals und Safien zu leisten ist, möglichst erleichtert werden. Solide Bausubstanz und kostengünstiger Unterhalt greifen ineinander.

Denkmalpflegerisch gesehen kommt es dabei vor allem darauf an, dass handwerklich sauber gearbeitet wird, wie das bereits bei der Erbauung des Weges gemacht worden ist – was dank der Sorgfalt und dem Traditionsbewusstsein der beteiligten Baufachleute auch durchgeführt werden kann! Alte und erneuerte Abschnitte sollen sich in wenigen Jahren durch die Patina angleichen und nicht mehr unterscheiden lassen. Fremde Materialien sind nicht zugelassen, es wird praktisch ausschliesslich mit den örtlich vorhandenen Gestein gearbeitet. Dafür wurden sogar verschiedene kleine Steinbrüche am Weg geöffnet. Dadurch soll sich der Weg auch weiterhin zwanglos in die Passlandschaft einfügen.

Die Motivation dafür ergibt sich selbstverständlich nicht nur aus dem Willen zur Landschafts- und Denkmalpflege. Der Polenweg soll in Zukunft problemlos von Wandernden und Bikern gemeinsam genutzt werden können, wofür es sich dank seiner Breite und Übersichtlichkeit auch ausgezeichnet eignet. Schliesslich soll die Thematisierung des Weges in der Kommunikation der Tourismusorganisationen und des Naturparks Beverin auch die Anziehungskraft der Landschaft stärken.

Das Projekt profitiert deshalb auch vom Interesse der verschiedensten Organisationen. Entstanden ist es aus einer Initiative des Naturparks Beverin, der die Projektkoordination ausführt, und der beiden Gemeinden Safiental und Vals, die die örtliche Bauleitung gewährleisten. Die Umsetzung wurde aber erst durch namhafte Beiträge weiterer Partner ermöglicht, nämlich der Fachstelle Langsamverkehr des Kantons Graubünden, des Bundesamts für Strassen ASTRA, des Fonds Landschaft Schweiz FLS, der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz SL, des Lotteriefonds des Kantons Zürich, der Gemeinde Flims als Besitzerin der Alp Tomül und des Valser Fonds. Zusammen tragen sie die Baukosten von rund 675'000.– Fr..

Erneuerter Steinplatten-Querabschlag unterhalb der Passhöhe, mit Panoramablick auf Schwarzhorn, Pizzas d'Anarosa, Alperschällihorn und Weisshorn.